"Deep Purple sehen und sterben...”
Das Deep-Purple-Konzert am 6. Juni 1971 auf den Bonneweger “Unions-Terrain” war das erste Rockfestival des Landes. Vor dem mutmaßlich letzten Deep-Purple-Konzert in Luxemburg sprechen Zeitzeugen über “das erste Mal” vor 46 Jahren.
Ortstermin im “Achille Hammerel"
Es gibt kaum unspektakulärere Orte als leere Fußballstadien. An einem regnerischen Tag Mitte Mai liegt das „Stade Achille Hammerel“ in Bonneweg still und ein wenig verlassen da. Ein sattgrüner Rasenplatz mit umlaufenden Werbebanden, eine Tribüne mit blauer Überdachung und Plastiksitzschalen in der gleichen Farbe. Der RFCUL hat noch ein Heimspiel vor sich, im Hintergrund trainieren ein paar Fußballer vor sich hin. Ansonsten ist es menschenleer. Nichts sieht heute danach aus, als sei hier ein Kapitel Luxemburger Kulturgeschichte geschrieben worden.
Und doch ist es genau so. Denn am 6. Juni 1971 fand im “Achille Hammerel” Luxemburgs erstes großes Rockfestival der Kategorie “Weltbekannte Band aus dem Ausland als Hauptattraktion” statt. Deep Purple waren zu Gast auf dem „Unions-Terrain“. Die Veranstaltung war kurzfristig vom Stade Josy Barthel hierher verlegt worden – die Gründe sind nicht mehr zu ermitteln. Möglicherweise wollte man sich im ehrwürdigen Hauptstadtstadion nicht den Rasen von einer Horde Langhaariger zertrampeln lassen, vielleicht waren auch zu wenig Karten im Vorverkauf weggegangen.
Deep Purple in Bonneweg – für das beschauliche Luxemburg eine Sensation, nicht nur weil die Briten stolze 300.000 Franken Gage bekamen, wie das „Lëtzebuerger Land“ später erfahren haben will. Sondern, weil 4 .000 größtenteils jugendliche Fans an diesem Nachmittag eine Band erleben, die trotz ihres jungen Alters (Drummer Ian Paice ist gerade mal 22) bereits neben Led Zeppelin und The Who als eine der bedeutendsten Rockbands der Welt gilt – und deren größte Zeit noch kommen sollte.
Jung und wild, aber äußerst fleißig
Das erste Deep-Purple-Album der berühmten „Mark II“-Besetzung, “In Rock”, war ein Jahr zuvor eingeschlagen wie eine Bombe. Die Arbeiten zu „Fireball“, ihrem zweiten, sind im Juni 1971 so gut wie abgeschlossen.
Deep Purple haben in jenem Jahr bereits eine ausgiebige Tour durch das Vereinigte Königreich, einige Termine in Kontinentaleuropa und eine eng getaktete Reise nach Australien mit fünf Shows in fünf Tagen hinter sich. Eine US-Tour mit 18 Konzerten steht ab Juli auf dem Programm.
Der Termin in Luxemburg ist seit 1969 ihr 228. Konzert in dieser Besetzung. Zur Einordnung: In Japan, wo das epochale Livealbum „Made in Japan“ entstand, waren sie damals noch gar nicht – und „Smoke on the Water“, die heute omnipräsente Hymne der 1970er, erschien erst knapp zwei Jahre später. Kurz: Der Termin in Bonneweg war ein eher kleines Konzert für Deep Purple - aber ein großes für Luxemburg.
Der freundliche RFCUL-Mitarbeiter, der die Tür zum Stadion öffnet, ist „désolé“, dass er Deep Purple nicht kennt – das sei nicht seine Generation. Von den sieben Luxemburgern, die zum Ortstermin aufs „Unions-Terrain“ zurückkehren, lässt sich das nicht behaupten: Sie waren damals zwischen 14 und Anfang 20 – und sie kennen Deep Purple bestens.
Fred Keup bringt es auf 25 Deep-Purple-Konzerte, Erny Rayeck war damals “noch neun Tage 15” und hat 35 Jahre später seinen Sohn zu dessen 16. Geburtstag zum Deep Purple-Konzert in Trier begleitet. Ernest Huss bringt Fotos mit, die er damals vor der Bühne gemacht hat. Annette Goerens spricht von Sänger Ian Gillan, dem Mann mit der phänomenalen Stimme, als ihrem damaligen Idol. Aly Schambourg hat die Eintrittskarte von 1971 dabei – „Drugs Officially Not Allowed“ steht darauf. Leider fehlt der Abriss mit dem Ticketpreis - irgendwas zwischen 200 und 270 Franken, erinnert man sich. Viel Geld in einer Zeit, in der man für zehn Franken ins Kino konnte.
Claude Mackel erinnert sich, zu viel getrunken zu haben und eingeschlafen zu sein, bevor es losging. Daraufhin habe ihn ein Feuerwehrmann sanft geweckt, um zu sehen ob alles in Ordnung sei – und um ihm mitzuteilen, dass das Konzert jetzt anfange. „Da war ich sofort hellwach“, meint Mackel lachend.
Die Augen unserer sieben Zeitzeugen leuchten auch nach 46 Jahren. Guy Frantzen bringt es auf den Punkt: “Mein Bruder und ich, wir waren damals grade mal 13 und 14 Jahre alt, kannten die Platten in- und auswendig. ‘Deep Purple sehen und sterben’, das war damals so ein Slogan, der kursierte. Dass unsere großen Idole jetzt aufs “Unions-Terrain” kommen sollten - das war unfassbar.”
Und die Erinnerungen an jenen 6. Juni sind alles andere als verstaubt. Die Setlist wird korrekt aus dem Gedächtnis rezitiert, alle sind sich heute noch einig, dass “Child in Time” das Highlight war.
Und: “Viele kamen einfach so ohne Karte über den Zaun” erinnert sich Rayeck. Das bestätigt ein Blick ins Archiv des “Luxemburger Wort”, das damals einen ausführlichen Vorbericht und eine fast ganzseitige Konzertkritik brachte. René Thill, damals 19, heute pensionierter Steuerberater, schrieb in bestem Zeitkolorit:
Diese Frage stellte wohl nicht nur er: Schon 1970 hatte Ian Gillan in einem Interview mit dem deutschen Fernsehen bemängelt, dass immer wieder Konzerte gestürmt worden seien - was letztlich den Ticketpreis für diejenigen verteure, die sich ordnungsgemäß eine Karte kauften. Und viele Luxemburger Eltern betrachteten die „Affenmusik“ (so laut Ernest Huss damals der gängige Begriff), die ihre Kinder hörten, sowieso mit Argwohn. Im Hause Keup war man wohl pragmatisch („Ich durfte hingehen und bekam sogar Geld fürs Ticket – dann hörte ich die laute Musik wenigstens woanders“), anderswo ging es strenger zu.
Denn Anfang der 1970er Jahre war Luxemburg noch ein katholisches, konservatives Land. Ein Rockkonzert während der Oktavzeit galt vielen noch als Sakrileg.
Und so mussten viele Luxemburger Jugendliche dem “Jahrhundertkonzert” fernbleiben. Einer der Unglücklichen: Roger Hamen. Der einstige Präsident der “Fête de la Musique”. Direktor des Rocklabs, Mitbegründer des “Rock um Knuedler” oder für manche nur der “Big Daddy” der Luxemburger Musikszene, durfte nicht. Sein Vater hatte es nicht erlaubt. Da er in Bonneweg lebte, bekam er das Konzert trotzdem mit. “Ich konnte in meinem Zimmer hören, wie sie ‘Child in Time’ spielten. Das ganze Zimmer hat vibriert, es war verdammt laut”, erinnert sich Hamen, “zum Ärger vieler Bonneweger Bürger.”
Bei diesem Konzert im “Achille Hammerel”, das ist deutlich zu spüren, geht es um mehr als um Deep Purple. Es ging um die eigene Biographie und um die Rockgeschichte eines ganzen Landes. Und aus heutiger Sicht darum, wie sich die Zeiten geändert haben: Konzerte zu besuchen war früher „Knochenarbeit“, meint Guy Frantzen. Heute gibt es die Rockhal, die Kufa in Esch, das Atelier, zahlreiche Open Airs. Damals gab es … nichts. Bis Deep Purple kamen.
“Wir hatten zwar schon ein paar Konzerte gesehen, aber die waren alle im Ausland. Alle guten Shows waren in Deutschland, in England oder in Frankreich. Und wir waren ja nicht mobil”, erinnert sich Keup. Das bestätigt LW-Kritiker Thill, der sich im Archiv seine alten Artikel noch einmal vornimmt. Texte, die übrigens dem Rückblick nach über vierzig Jahren standhalten.
Der „junge Kollege“ hat damals sauber recherchiert: Er besuchte Deep Purple vor dem Konzert im Hotel für ein Gruppenfoto, das allerdings nie zustande kam. Der Exzentriker Ritchie Blackmore („brillanter Leadgitarrist und gelegentlich brillanter Showman“, schrieb Thill) war bereits alleine zum Stadion aufgebrochen – er sei „bereits von früher bekannt als sehr wortkarg, zurückhaltend, menschenscheu“, das sei „übrigens laut Ian Gillan ein Problem für seine Kameraden.“ Man muss es zweimal lesen: Ein Luxemburger Jungreporter legt hier bereits früh den Finger akkurat auf den Punkt, der zwei Jahre später zum ersten, 1989 zum zweiten und 1993 zum dritten Split der legendären „Mark II“ führen sollte.
Jahrzehnte vor Erfindung des Internets war Kreativität gefragt, um an solche Infos zu kommen. „Ich habe mich immer schon dafür interessiert, wie solche Sachen hinter den Kulissen aussehen“, sagt Thill, der später mit dieser Philosophie auch für die “Wort”-Sportredaktion schrieb. Er las englische Rockmagazine und hatte dazu noch ein Ass im Ärmel, um nah an die Stars zu kommen: „Einem saarländischen Veranstalter habe ich angeboten, für ihn die Tickets zu seinen Konzerten zu den Luxemburger Vorverkaufsstellen zu bringen. Am Konzertabend selbst hatte ich dann freien Eintritt in der Saarlandhalle – und musste natürlich zum Abrechnen hinter die Bühne.“
Auch beim Ortstermin im Stadion fliegen Namen und Geschichten über die Tribüne – Ten Years After, The Lords, UFO, Emerson Lake & Palmer. Vom Konzert von Queen in der Disko “Blow Up” (im Jahr 1973) ist die Rede und davon, dass Jimi Hendrix angeblich mal nach einem Termin bei Radio Luxemburg in “Charly’s Bar” Gitarre spielen wollte, aber nicht durfte – weil es den Stammgästen nicht gefallen haben soll. Nach zwei Stunden sind die Anekdoten erzählt, die Fotos gezeigt und die Videointerviews im Kasten. Die Runde löst sich bei guter Stimmung auf.
Deep Purple sind von Luxemburg weitergezogen und wurden zu Superstars. “Ich hoffe, dass dies nicht das erste und letzte Mal war, dass solch eine gute Gruppe in Luxemburg auftrat”, beschloss René Thill seine Kritik. Die Sorge war unbegründet.Es dauerte 25 Jahre, bis Deep Purple nach Luxemburg zurückfanden, dafür kamen sie nach dem ersten Konzert noch sechs Mal wieder, einmal sogar mit ihrem legendären “Concerto for Group and Orchestra”. Ihr Konzert am Samstag, den 27. Mai in der Rockhal wird ihr achtes Gastspiel im Großherzogtum gewesen sein - und mutmaßlich ihr letztes.
Die damals 14-jährigen Fans aus Bonneweg haben ihre eigenen Karrieren gemacht, sind dabei der Rockmusik treu geblieben und mögen ihrerseits die Lieblingsmusik ihrer Kinder nicht. Dieser Widerspruch im Lauf der Welt fällt ihnen selbst auf und sorgt noch im Rausgehen für Gelächter. Das Gute an Deep Purple sei immer gewesen, dass sie so unverkrampft waren, so Fred Keup. Für ihre Fans gilt ohne Zweifel das Gleiche.